Dienstag, 29. Juni 2021

O sole mio

Das riesige Rad dreht sich langsam, stoppt und die Menschen steigen fröhlich aus den wankenden Gondeln und andere steigen ein. Es ist ein altes Riesenrad mit offenen Kabinen. Die Besucher schweben in die Höhe und genießen den Blick über den Kirmesplatz und weit über die Stadt, deren Lichter in der lauen Juli-Abendluft blinken.




Michael sitzt in seiner Ticketkabine und sieht den alten Mann kommen. In seinem schwarzen Anzug und dem weißen Hemd mit der rote Fliege fällt er jeden Abend auf. Er wankt und Michael hilft ihm die drei Stufen hinauf zum Gang und weiter in eine leere Gondel. Der Alte lächelt und nimmt einen Schluck aus der mitgebrachten Flasche. Das Rad ruckelt weiter und die Gondeln füllen sich. Dann beginnt für die  neuen Gästen eine wunderbare Fahrt mit mehreren Umdrehungen.


Der alte Mann hat sich erhoben und es ertönt eine gewaltige Tenorstimme. Die Kirmes-Besucher kennen das und versammeln sich am Fuß des Riesenrads. Sie hören zu, während Zuckerwatte, gebrannte Mandeln und Eiscreme verspeist werden.

Hoch oben aus der Gondel ertönt „O sole mio“, wie es alle Tenöre in der ganzen Welt schon gesungen haben. Mit Caruso begann es und mit Domingo, Pavarotti und Bocelli ertönt es bis heute. Wenn die Kabine des Sängers hoch oben ist, weht der Wind die Liedfetzen über den Festplatz, wo sie sich mischen mit den Geräuschen der anderen Fahrgastgeschäfte, dem Geschrei der Losverkäufer und dem Gejaule aus der Geisterbahn. Wenn sich das große Rad nach unten dreht, haben die staunenden Besucher i quasi in der ersten Reihe ihren Opernstar vor sich.


In den Zeitungen standen kurze Notizen über das allabendliche Ereignis: Klaus Berger war einst ein weltweit gefeierter Operntenor, bevor er das Saufen anfing, um seinen Kummer über den Krebstod seiner Frau zu ertränken. Seine Karriere war zu Ende und die Presse nahm mit versteckt schmähendem Mitleid Anteil. Klaus vermachte den ganzen Besitz der Kinderkrebsklinik seiner Heimatstadt und gab nur noch dort Konzerte für Kinder, Eltern und das Klinikpersonal. Und jetzt singt er nah am Himmel.


Ein junges Pärchen hat in einer Nachbarkabine einen Platz ergattert und bei einem Stop huscht die junge Frau rüber zu Klaus und umarmt ihn. Sie küsst ihn unter Tränen der Freude und der Rührung auf den Mund. Als sie wieder neben ihrem Freund sitzt, beobachten beide. wie sich Klaus etwas in den Mund schiebt und mit einem Schluck aus der Flasche nachspült. Er lächelt, schliesst die Augen und kuschelt sich in die Bankecke der Gondel.


Der Festplatz hat sich geleert, einige Buden und Karussells machen schon die Lichter aus. Das Platzsignal ertönt und kündigt die Schließung um 23 Uhr an. Michael zählt die Einnahmen, notiert alles auf dem Abrechnungsblock und schliesst die Metallkassette. Er hält Ausschau nach seinen letzten Gästen.

Der Stadtrat im dunkelblauen Anzug kommt heute mit drei

„Models“ in knalligen Miniröcken und hält wie immer eine Champagnerflasche in der Hand. Er gibt Michael einen Umschlag und die Reisenden der Nacht besteigen lachend eine Kabine. Sofort startet Michael die Tour, bis die besetzte Kabine ganz oben ist. 

Michael döst die verabreden 15 Minuten bis zum „Happy End“ des Abends, als das junge Pärchen von vorhin vor ihm steht.

„Entschuldigung, haben Sie die Telefonnummer von dem Sänger? Oder können Sie ihn nach seiner Adresse fragen? Wir hätten ihn gern bei unserer Hochzeit.“

„Da muss ich bis morgen warten, der ist jetzt weg.“

„Er war aber vorhin noch da und hat in der Gondel geschlafen.“

„Nee, der ist weg, ich habe nicht darauf geachtet, hatte zu viel zu tun.“

Das Mädchen wurde aufgeregt: „Bitte schauen Sie doch mal nach. Ich glaube, er hat etwas geschluckt. Vielleicht schläft er…“

„Was sagen Sie da?“

Michael betätigt das Riesenrad und lässt die Kabinen an sich vorbei schweben. Als der Stadtrat mit seinen Girls passiert, ordnen die sich etwas hektisch die Kleidung und werden unter Protest weiter gedreht. Dann kommt die rote Gondel mit dem in der Ecke sitzenden Tenor.

Michael springt in die Kabine und fühlt den Puls und kontrolliert die Augen.

Wenige Minuten später kommt mit Blaulicht der am Ausgang der Festwiese stehende Rettungswagen, der sich vor allem um Prügelnde und Betrunkene zu kümmern hat. 


Als später die beiden schwarz gekleideten Männer den Sarg in den Mercedes-Kombi schieben, ist es ganz still auf dem Festplatz, und es blinken nur noch die blauen Signal-Lampen, die normalerweise Rettung versprechen. 


© Manfred Spies, 2008

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